Es mangelt an Masse
GIDS debattiert über deutsche Panzerlieferungen im Ukraine-Krieg
#GIDSnews I 6. Juni 2023 I Autor: Christian Müller I Fotos: Bundeswehr / Marco Dorow, Christian Lauw
Das Thema des Abends stieß auf große Resonanz: Oberst i. G. Dr. Bernd Kirsten und Hauptmann Hendrik Remmel gingen in zwei Impulsreferaten der Frage nach, ob die Lieferung von Kampfpanzern Leopard 2 und Schützenpanzern Marder einen Gamechanger im Ukraine-Krieg darstellt. Oberst i. G. Dr. Kirsten, der Anfang der 2000er-Jahre Kommandeur des gekaderten Panzerbataillons 23 war, stellte zunächst die technischen Daten des Leopard 2 vor. Feuerkraft, Panzerschutz und Beweglichkeit machen den Panzer zu einem weltweit begehrten Rüstungsprodukt. Die Ukraine hat lange die Lieferung von Leopard 2 gefordert, bis sich im Januar 2023 die westliche „Koalition der Willigen“ auf die Lieferung von 88 Panzern verständigte; inzwischen sei die Zahl wieder auf 62 gesunken. Oberst i.G. Dr. Kirsten, Leiter Wissensmanagement GIDS: „Der Beschluss, Leopard 2 zu liefern, kam viel zu spät. Zumindest militärisch gesehen, gab es hierfür keinen Hinderungsgrund.“
Die zugesagten Stückzahlen seien ohne Auswirkung auf die Einsatzbereitschaft der NATO-Streitkräfte geblieben, lautete eine weitere These: „Die Lieferung von vier Prozent der Panzerbestände der Allianz ist per se vernachlässigbar“, hob Oberst i. G. Dr. Kirsten hervor. Wichtig sei zudem, dass Kampfpanzer ihre volle Wirkung nur im Gefecht der verbundenen Waffen entfalten können. Für eine deutsche Panzerbrigade beziehe sich dies etwa auf das koordinierte Zusammenwirken von Panzergrenadieren, Artillerie, Aufklärern, Pionieren und anderen Truppengattungen. Um eine ukrainische Panzerbrigade nach Grundsätzen der Bundeswehr aufzustellen, reichten die Lieferungen derzeit nicht aus. Darüber hinaus sei zu erwarten, dass sie sich nur lokal auswirkten: „Bei einer Frontlinie von rund 2000 Kilometern und einem Gefechtsstreifen eines Panzerbataillons von rund fünf Kilometern Breite gibt es hier nur einen sehr begrenzten Aktionsraum.“ In seiner letzten These stellte Oberst i. G. Dr. Kirsten fest: Die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine sei ein Anlass, die deutschen Bestände zu modernisieren. Deutschland verfüge derzeit über 305 Kampfpanzer des Typs Leopard 2 A4 bis A6, die sich nach und nach durch modernere Versionen ersetzen ließen. Sein Fazit: Die Lieferung von Leopard-2-Panzern stelle bislang keinen Gamechanger dar. Um eine Wende im Ukraine-Krieg herbeizuführen, müssten mindestens viermal mehr Panzer zugesagt und mindestens achtmal mehr als bisher geliefert werden.
Keil zwischen Krim und Festland
Hauptmann Hendrik Remmel vom Stab der Führungsakademie der Bundeswehr und zuvor Panzergrenadierzugführer ging auf den Schützenpanzer Marder und seinen taktischen Einsatz ein. Während abgesessene Grenadiere der Bundeswehr meist nicht mehr als 100 Meter entfernt vom Marder kämpften, setzten andere westliche Länder Schützenpanzer eher als Feuerunterstützung für die Infanterie ein. Auch die Ukraine habe in Bezug auf Schützenpanzer eine andere Ausbildungstradition als Deutschland.
Zum Szenario einer möglichen ukrainischen Gegenoffensive sagte der Offizier, dass die Ukraine mindestens zwei bis drei schlagkräftige Brigaden benötige, um etwa einen Keil zwischen der Krim und dem besetzten ukrainischen Gebiet zu treiben. Allerdings: „Die ukrainischen Streitkräfte haben ihre Fähigkeit zum mechanisierten Angriff mit Großverbänden bis dato noch nicht nachgewiesen“, sagte Hauptmann Remmel und ergänzte, dass die bisherigen Kräfte nicht ausreichten, um den Krieg noch in diesem Jahr zu beenden. Auch bleibe zu klären, woher das Großgerät für die nächsten Offensiven kommen soll. In seinem Fazit warf Hauptmann Remmel die Frage auf, worin das strategische Ziel Deutschlands bestehe – denn davon ausgehend müsse sich die Qualität und vor allem Quantität der Militärhilfe bemessen. Die bisherigen Waffenlieferungen zwängen die russischen Streitkräfte schon einmal, noch mehr Reserven zu mobilisieren.
In der von Professor Dr. Stefan Bayer moderierten Diskussion waren sich die Teilnehmer einig, dass sich der Ukraine-Krieg zu einer gewaltigen Materialschlacht ausweiten könne. Bereits jetzt seien auf beiden Seiten erhebliche Verluste bei Kampf- und Schützenpanzer zu verzeichnen. Anders als die Ukraine, könne Russland aber „400 bis 600 Kampfpanzer pro Jahr produzieren. Zudem hat Russland die nationale Ökonomie auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die Ukraine kann dem nur wenig entgegensetzen, schon deshalb ist sie auf westliche Waffenlieferungen angewiesen“, sagte Hauptmann Remmel.
Vorerst offen bleibe, welche Schlüsse aus der Operationsführung zu ziehen seien: „Wir müssen sehen, wie die ukrainischen Streitkräfte, die keine Divisionsebene kennen, eine groß angelegte Offensive durchführen“, sagte Oberst i. G. Dr. Kirsten. Zugleich lobte er das Improvisationsgeschick der erfahrenen ukrainischen Bataillonskommandeure. Auch vor diesem Hintergrund sollte die Bundeswehr prüfen, ob das Konzept des Gefechts der verbundenen Waffen im traditionellen Verständnis der Bundeswehr noch zeitgemäß sei, so Hauptmann Remmel abschließend.