„Arabischer Frühling“ reloaded?

Proteste in Nahost und die Gefahr der westlichen Fehlinterpretation

Foto: Adobe Stock

Autorin: Dr. Marie-Theres Beumler

GIDS Articles I 13. November 2019

Seit Wochen wird im Irak und im Libanon gegen die jeweiligen Regierungen protestiert. Während es im Libanon bislang friedlich blieb, gab es im Irak bereits mehrere Todesopfer, die durch das Eingreifen der Sicherheitskräfte ums Leben kamen1.

Der Libanon und der Irak sind zwei Staaten mit völlig unterschiedlicher Historie, ethnischer und religiöser Zusammensetzung und unterschiedlichen geografischen Gegebenheiten. Der Libanon ist bis heute geprägt vom 15-jährigen Bürgerkrieg, der erst 1990 ein Ende fand und in einem politischen System mündete, das auf Ausgleich zwischen den vielen in dem kleinen Land beheimateten Religionsgruppen setzt. Der Irak ist gezeichnet von den Dekaden der Baath-Diktatur unter Saddam Hussein und den Folgen der amerikanischen Besatzung ab 2003.

Dennoch gibt es in jüngster Zeit einige Entwicklungen, die einen Vergleich zwischen beiden Ländern zulassen: Weder im Libanon, noch im Irak sind im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ab 2010 Proteste ausgebrochen, die sich in Ausmaß und Folgen mit den Nachbarländern vergleichen ließen. In beiden Ländern sind jedoch in den letzten Jahren immer wieder regionale Proteste gegen die Regierung ausgebrochen, die stets mangelnde sozio-politische Serviceleistungen seitens der Regierung zum Aufhänger hatten. Im Libanon protestierten die Menschen 2015 und 2016 gegen die katastrophale Müllversorgung unter dem Motto „You stink“, 2 im Irak brachen in der südlichen, schiitisch geprägten Provinz Basra im Sommer dieses Jahres ebenfalls Proteste gegen die inadäquate Müllentsorgung, Ausfälle in der Stromversorgung (ebenfalls ein weit verbreitetes Problem im Libanon) und mangelnde Wasserversorgung aus3.

Steigender islamistischer Einfluss

Beide Länder teilen aber noch eine weitere, signifikantere Gemeinsamkeit: Sie sind beide Teil der iranischen Einflusssphäre. Der Iran selbst ist bislang vom „Arabischen Frühling“ verschont geblieben. 2009 wurde das „Green Movement“ noch unter dem damaligen Präsidenten und IRGC-Mitglied Ahmadinejad schnell und brutal niedergeschlagen. Der ebenfalls im Zuge des „Arabischen Frühlings“ ausgelöste Krieg in Syrien trifft die iranische Verteidigungsstrategie der „Forward Defense durch Stellvertreter“ zwar hart, spielt sich aber (zumindest zu Zeiten des Kriegsausbruchs) in einem mit dem Iran befreundeten Staat ab, nicht in einem Land, dessen Regierung unmittelbar unter dem Einfluss Teherans steht.

Im Libanon und im Irak ist dies nun anders. Der Libanon steht seit der Gründung der Hezbollah in den frühen 1980er-Jahren und dem Einzug der „Partei Gottes“ in das libanesische Parlament 2005 stark unter iranischem Einfluss. Die Hezbollah ist vor allem im Süden und Osten, aber auch in großen Teilen Beiruts ein nicht wegzudenkender, zentraler Akteur, der wiederum ganz offen zugibt, finanzielle und materielle Unterstützung durch den Iran zu erhalten4.

Im Irak hat sich der iranische Einfluss dagegen erst nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 und der darauf folgenden Einsetzung des schiitischen Premierministers Nuri al Maliki manifestieren können. Nach dem ersten Golfkrieg, in dem sich beide Staaten als erbitterte Rivalen gegenüberstanden, hat es erst das durch den Sturz der irakischen Regierung und den Machtzuwachs irakischer Schiiten auf Kosten der Sunniten entstandene Machtvakuum vermocht, einen sich im Irak verfestigenden Einfluss des Iran zu ermöglichen. Dieser zeigt sich am deutlichsten durch die zahlreichen Volksmobilisierungseinheiten (Hashd al Shabi) und den Einfluss pro-iranischer Mitglieder des irakischen Parlaments5.

Während die Ideologie und Politik des Iran sich im Libanon (prominent vertreten durch Hassan Nasrallah) also bereits seit Jahrzehnten verfestigt haben, ist dem Iran im Irak nach 2003 und 2011 ein deutlicher Machtzuwachs gelungen (strategisch ausgeplant von Qassem Suleimani). Nun werden jedoch in beiden Ländern die Proteste gegen die jeweiligen Regierungen immer nachdrücklicher. Im Irak wurde zuletzt sogar das iranische Konsulat in Kerbela angegriffen, als Zeichen der Demonstranten gegen die iranische Einflussnahme auf die irakische Politik6. Im Libanon wird bereits seit Wochen auch in den von den schiitischen Gruppen Amal und Hezbollah dominierten Gegenden protestiert, wobei Anhänger beider Parteien gezielt versuchen, die Proteste zu stören7.

Keinen Illusionen hingeben

Sofern diese Entwicklung anhält – und danach sieht es aus –, wird sie den Iran und seine regionalen Partner wie die Hashd al Shabi und die Hezbollah vor erhebliche Herausforderungen stellen. Vor allem die Hezbollah ist eine derartige Kritik nicht gewöhnt, wie sich bereits an der unglücklichen Reaktion ihres Anführers Hassan Nasrallah zeigte. Dieser unterstellte den Protestlern, sie seien aus dem Ausland finanziert, um sie zu diffamieren. So uneinsichtig und falsch die Reaktion Nasrallahs gewesen sein mag, sie ist eine deutliche Warnung an den Westen8.

Denn trotz berechtigter Sorgen über die Folgen wachsender Instabilität in unserer Nachbarschaft sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, unsere Unterstützung für die Protestler oder die Regierungen würde die Lage vor Ort verbessern. Das einfache Argument hierfür wäre die Heranziehung der Folgen des „Arabischen Frühlings“ für Ägypten: Auf den Sturz Mubaraks folgte letztendlich al Sisi, der nicht weniger autokratisch regiert als der langjährige Diktator Mubarak. Europa schien mit der Situation 2011 derart überfordert zu sein, dass es verkannte, dass es in Ägypten nach Mubarak nur zwei Machtbasen gab, aus denen der nächste Präsident erwachsen konnte: Die islamistische Muslim Bruderschaft (Mursi) und das Militär (Sisi). Mittlerweile gibt es in Ägypten seit Wochen wieder Proteste gegen al Sisi, der gerade wieder verfassungswidrig den Ausnahmezustand verlängert hat.9 Europa ist indes davon abhängig, dass der Autokrat Sisi sein Volk von ca. 100 Millionen unter Kontrolle hält – eine Welle von Geflüchteten aus Ägypten würde der alte Kontinent ebenso wenig verkraften wie die regionalen Nachbarn Ägyptens.

Große Skepsis vor westlicher Einmischung

Sowohl im Libanon als auch im Irak ist die Lage jedoch komplizierter. Im Libanon ist die Hezbollah in weiten Teilen ein integraler Bestandteil des gesamten Lebens. Sie stellt soziale und politische Infrastruktur, die Poster von gefallenen Märtyrern und die Ideologie der Hezbollah finden sich überall. Wie in den meisten Ländern des Nahen Ostens herrscht auch unter der libanesischen Bevölkerung Skepsis gegenüber westlicher, vor allem amerikanischer Einmischung in die internen Angelegenheiten des Landes. Während in den USA bereits einige Stimmen laut wurden, dass Amerika nun die libanesischen Proteste unterstützen sollte,10 ist dies ein gefährlicher Trugschluss. Es ist im Gegenteil sogar naheliegend, dass die breite libanesische Öffentlichkeit keinesfalls eine externe Einmischung herbeiwünscht, die es Parteien wie Nasrallahs Hezbollah nur erleichtern würde, die Proteste zu diskreditieren und niederzuschlagen. Vielmehr müssen die Menschen vor Ort selbst einen Weg finden, Veränderung zu schaffen. Für den Irak gilt das gleiche. Sollte sich Europa jetzt einmischen, riskiert es, die legitimen Proteste zu diskreditieren und zu unterminieren. Im schlimmsten Fall kann auch dies zu ausschweifender Gewalt führen, zumal nicht ausgeschlossen ist, dass man sich auf die falsche Seite stellt.

Europa und der Westen sollten helfen, wenn sie um konstruktive Hilfe gebeten werden – im Libanon bietet sich hier die Stabilisierung des Finanzsystems durch entsprechende Unterstützung an. Ein Eingreifen im Irak wäre dagegen wesentlich komplizierter, da hier an entscheidenden Stellen in der Regierung Milizionäre sitzen. Hier müssten Initiativen genau durchdacht und überwacht werden, um sicherzustellen, dass die Unterstützung das gewünschte Ziel verfolgt.

Eine verfrühte, wenig durchdachte Hilfe wäre nichts als das Missverständnis, dort helfen zu können, wo man selbst nicht einmal die Lage versteht.

Redaktioneller Hinweis: Die Autorin war kurz vor Ausbruch der Proteste im Libanon und schildert hier auch ihre eigenen Eindrücke.

Einzelnachweise

[1] https://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2019/11/06/Day-21-of-protests-in-Lebanon-with-banks-roads-shut-.html; https://english.alarabiya.net/en/News/middle-east/2019/11/06/US-embassy-in-Iraq-condemns-violence-against-protesters.html

[2] https://www.aljazeera.com/news/2015/09/stink-protesters-return-beirut-streets-150921001623682.html

[3] https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/06/iraq-protests-corruption-basra-services.html

[4] https://www.reuters.com/article/us-lebanon-hezbollah/hezbollah-says-gets-support-not-orders-from-iran-idUSTRE81629H20120207

[5] Beumler, Marie-Theres: „Schiitische Milizen in Nahost: Iranische Machtprojektion und ihre Auswirkung“, Jahrbuch Terrorismus 2019/2020, ISPK Kiel tbd.; Steinberg, Guido: „Die Volksmobilisierung im Irak“, SWP-Aktuell 52, SWP 2016

[6] https://www.middleeasteye.net/news/saving-our-country-enemy-iraqis-say-they-are-fighting-back-against-iranian-influence

[7] https://www.reuters.com/article/us-lebanon-protests/hezbollah-amal-supporters-wreck-beirut-protest-camp-hariri-looks-set-to-quit-idUSKBN1X81EO

[8] https://www.reuters.com/article/us-lebanon-protests/hezbollah-amal-supporters-wreck-beirut-protest-camp-hariri-looks-set-to-quit-idUSKBN1X81EO

[9] https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/10/egypt-sisi-renew-state-of-emergency-constitution.html

[10] https://www.washingtonpost.com/opinions/2019/11/01/hezbollah-had-been-nearly-untouchable-lebanon-people-are-fighting-back/