Die Ostsee als Brennglas angespannter Beziehungen
Im Interview: Julian Pawlak vom GIDS über die NATO, Russland und die Gefahr einer Konfrontation
#GIDSinterview I 18. Juni 2024 I Autor: Dyfed Loesche I Foto: Bundeswehr / Tom Kistenmacher
Das GIDS ist in diesem Jahr erstmals Mitausrichter des Kiel international Seapower Symposium (KISS). Die Tagung geht der Frage nach, welche Lehren aus dem Krieg vor der Küste der Ukraine zu ziehen sind – auch für andere Seegebiete, darunter die Ostsee. Julian Pawlak, wissenschaftlicher Mitarbeiter des GIDS und Teilnehmer des KISS24, erörtert die aktuelle Situation und erläutert, welche Gefahren drohen.
Hat der Überfall Russlands auf die Ukraine die Ostsee zum sicherheitspolitischen Hotspot gemacht?
Die Ostsee wirkt bereits seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2014 wie ein Brennglas der angespannten Beziehungen zwischen der NATO und der Russischen Föderation. Es gibt regelmäßig militärische, auch nukleare Drohungen gegen die baltischen Staaten. Parallel dazu kommt es häufig zu Verletzungen des Luftraums bis hin zu gefährlichen Manövern, zum Beispiel die Überflüge russischer Su-24 über den US-Lenkwaffenzerstörer „USS Donald Cook“ im Jahr 2016. Auch die Sichtung von U-Booten gehört dazu, etwa in schwedischen Territorialgewässern 2014. Die strategische Bedeutung der Ostsee hat sich für die NATO seit 2022 noch einmal erhöht, insbesondere für die Verteidigung der drei baltischen Staaten.
Zu Anfang des Krieges wurden die Fähigkeiten der russischen Landstreitkräfte teils überbewertet. Wie sieht es mit der Baltischen Flotte in der Ostsee aus, wie see- und kriegstüchtig ist sie?
Die heutige Baltische Flotte der russischen Seestreitkräfte verfügt über verschiedene Plattformen, etwa ein U-Boot der Kilo-Klasse und die im Zuge der Modernisierung der Flotte zugeführten Korvetten der Stereguschtschi– und Bujan-M-Klasse, die teils auch Kalibr-Marschflugkörper verschießen können. Neben ihren seegehenden Einheiten verfügt die Flotte über nennenswerte Komponenten für den Kampf in der Luft und auf dem Festland. Die Fähigkeiten zur Seezielbekämpfung aus der Luft und zur Seeraumverweigerung sind hervorzuheben. Zwar musste die Landkomponente in Form des 11. Armeekorps erhebliche Verluste bei den Kämpfen in der Ukraine verzeichnen, doch die grundsätzlichen Fähigkeiten, um in der Ostsee zu wirken, sind bisher bestehen geblieben.
Die NATO scheint den russischen Kräften im Ostseeraum überlegen. Inwiefern stimmen Sie dem zu?
Der erste Blick auf die Karte erweckt diesen Eindruck, insbesondere nach dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands. Bis auf die Russische Föderation sind alle Ostseeanrainer Mitglieder des Verteidigungsbündnisses. Die breite Aufstellung der NATO in der Region birgt Vorteile durch die Möglichkeit, im Konfliktfall von strategischen Punkten zu wirken, etwa von Inseln wie dem schwedischen Gotland und dem dänischen Bornholm oder den Inseln Estlands. Auf diese Weise lässt sich verhältnismäßig schnell auf mögliche Ziele in der Ostsee wirken. Es können zudem Sperren gelegt werden, zum Beispiel zwischen Finnland und Estland zur Sperrung des Golfs von Finnland. Dennoch kann die Kontrolle eines Seegebietes nicht mit jener über Festland gleichgesetzt werden. Dies gilt insbesondere, wenn ein potenzieller Gegner mit eigener Küstenlinie und entsprechenden Fähigkeiten präsent ist.
Welche weiteren Vorteile ergeben sich aus den Beitritten von Schweden und Finnland zur NATO?
Bereits vor den NATO-Beitritten bestanden enge Verbindungen zu Schweden und Finnland, beispielsweise durch den Host Nation Support zur militärischen und zivilen Unterstützung von NATO-Truppen im Land. Trotz ihrer Neutralität waren Schweden und Finnland so enge Partner wie nur irgendwie möglich. Nichtsdestotrotz haben die Beitritte die Prozesse der gegenseitigen Unterstützung und die kollektive Verteidigung um ein Vielfaches gestärkt. Die Verteidigungsplanungen der NATO für die Region werden aktuell überarbeitet und angepasst. Dabei geht es um den gesamten Ostseeraum, aber im Speziellen um die Verteidigung der baltischen Staaten, die wegen ihrer geographischen Lage herausfordernd ist. Der maritime Versorgungsweg über die Ostsee ist notwendig und birgt zugleich Ungewissheiten. Ein Beispiel: Solange es nicht zum Konfliktfall kommt, gilt das Recht der friedlichen Durchfahrt, auch für russische Schiffe. Dabei wissen Sie aber nicht zwingend, egal ob es zivile oder militärische Schiffe sind, was sie geladen haben und welcher Zweck mit dieser Ladung verfolgt wird.
Wie muss die NATO nun weiter vorgehen, worauf muss sie sich vorbereiten?
Die Allianz muss auf der einen Seite die Verteidigungsplanung anpassen, um die beiden neuen Bündnispartner und deren Fähigkeiten einzubeziehen, um die Seewege in der Ostsee noch stärker zu nutzen, zur Verteidigung des Baltikums. Andererseits muss man sich auf das gesamte Spektrum von Konfrontationen einstellen, auf hybride Grey Zone-Operationen unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt, etwa in Form von Schädigungen kritischer Infrastrukturen, Spionage und Sabotageakte. Das können Nadelstiche sein, die nicht unbedingt militärischer Natur sein müssen.
Andererseits muss die NATO auf ein hochintensives Gefecht vorbereitet sein. Dazu gehören zum Beispiel die Minenkriegsführung oder die Abwehr amphibischer Landeoperationen, aber auch die Möglichkeit, im Konfliktfall selbst im Baltikum amphibisch zu landen. Auch der Einsatz von U-Booten und die U-Boot-Jagd gehören dazu sowie der Seekrieg aus der Luft, der in dem Operationsgebiet Ostsee sehr bedeutend ist. Der Grund: Von den Landgebieten aus kann man jeden Punkt in der Ostsee sehr schnell erreichen.
Und dies ist auch der Grund, weshalb sich Flugzeugträger nicht für die Ostsee eignen …
Große seegehende Einheiten sind in einem solchen Seegebiet einfache Ziele. Die deutschen Korvetten hingegen sind ideal, um in der Ostsee zu operieren. Sowohl die deutschen 212er-U-Boote, die schwedischen U-Boote der Gotland-Klasse und perspektivisch des Typs A26 sind ebenfalls aufgrund ihrer Größe und ihres leisen Antriebs perfekt dafür ausgelegt, in Gewässern mit so geringer Wassertiefe wie in der Ostsee zu operieren. Wichtig sind auch die Möglichkeiten, die die Schweden und Finnen haben, ihre Küstengewässer zu nutzen. Etwa die schwedischen Archipele, zur Deckung, aber auch um von dort aus wirken zu können.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Ostsee zum Schauplatz von Zusammenstößen zwischen russischer Marine und NATO-Verbänden werden könnte?
Ein konventioneller Konflikt ist immer schwer vorauszusagen. Momentan und in naher Zukunft scheinen die russischen Streitkräfte mit der Invasion der Ukraine ausgelastet zu sein. Zugleich wird mit einer Konsolidierung der militärischen Fähigkeiten über die nächsten Jahre gerechnet. Wie lange das dauert, dazu gehen die Schätzungen weit auseinander. Das reicht von drei über fünf bis zehn Jahre. Für die Ostsee ist die Gefahr vorsätzlicher konventioneller Zusammenstöße zum aktuellen Zeitpunkt eher gering. Womit jedoch zu rechnen bleibt, ist die Fortführung der hybriden Methoden unterhalb der Schwelle zum bewaffneten Konflikt – von gezielter Desinformation bis hin zu Sabotageakten. Über all dem liegt zudem die Gefahr, dass unprofessionelles Verhalten, wie etwa zuvor genannte Überflüge, zu Unfällen oder unbeabsichtigten Zusammenstößen führen.
Welche Bedeutung haben die Sea Lines of Communication (SLOC) im Falle der Ostsee?
Die Seewege, die Sea Lines of Communication, in der Ostsee sind für alle Anrainerstaaten von enormer Bedeutung. Nicht nur für die Versorgung der baltischen Staaten im Konfliktfall. Im Fall von Finnland läuft der Handelsverkehr zu 95 Prozent über die Ostsee, man könnte auch sagen, dass das Land in dieser Hinsicht einer Insel gleicht. Auch für Russland sind sie von enormer Bedeutung. Nicht nur zur Versorgung von Kaliningrad, weil der Landweg sehr beschränkt ist, sondern auch für den Ölexport und für die russische Wirtschaft insgesamt. Alle Beteiligten haben ein Interesse daran, dass diese Seewege offen und passierbar sind.
Welche Lehren hält der Seekrieg im Schwarzen Meer für die Ostsee parat?
Man sieht die Anpassungsfähigkeit der Ukraine, die nahezu ohne Seestreitkräfte in der Lage ist, durch die Entwicklung von Drohnen und Anti-Schiffs-Raketen Seeraumverweigerung durchzusetzen. Daraus kann nicht nur der Westen lernen. Man muss sich darauf vorbereiten, dass auch die Russische Föderation und ihre Seestreitkräfte in der Lage sein könnten, aus dem Schwarzen Meer Lehren zu ziehen und sie in der Ostsee umzusetzen, aus einer vermeintlich geschwächten Position heraus.
Welche Rolle spielen die USA in der Ostsee?
Die USA sind auch im Ostseeraum der wesentliche Garant der kollektiven Verteidigung der NATO. Das gilt für die Landstreitkräfte wie auch die Seestreitkräfte. Wobei darauf abgezielt werden sollte, dass sich die Europäer mit ihren spezialisierten Fähigkeiten auf diese Region konzentrieren, insbesondere nach den Beitritten Finnlands und Schwedens zur NATO. Auch deutsche maritime Fähigkeiten sind sehr gefragt. Die amerikanische Seemacht muss nicht unbedingt unmittelbar im Ostseeraum aktiv sein. Aber die USA können über die gesamte Nordflanke, den weiteren Bereich Skandinavien, Norwegensee aktiv sein, um diese strategisch und operativ zu stützen.
Der Titel des diesjährigen Kiel International Seapower Symposium (KISS) lautet „Re-Learning War“. Ist es ein Neulernen oder ein Dazu- und Umlernen?
Einerseits muss man zu einem breiteren Verständnis kommen, was die Notwendigkeiten und Fähigkeiten zur Kriegsführung angeht – insbesondere im hochintensiven Gefecht. Die Kriegstüchtigkeit ist ein wesentliches Element, das wiedererlernt werden muss, weil die Fähigkeit zum klassischen, konventionellen Peer to Peer Conflict im Zuge von Einsätzen mit niedrigerer Intensität weniger Beachtung gefunden hat. Andererseits handelt es sich um eine Anpassung an die Herausforderungen der heutigen Zeit, vom Umgang mit Drohnen und notwendiger Flugabwehr bis zum Stören von GPS-Signalen.
Herr Pawlak, vielen Dank für das Gespräch.
Julian Pawlak ist Koordinator des Forschungsschwerpunktes Maritime Sicherheit an der HSU/UniBw H und wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIDS. Er beschäftigt sich mit den Themengebieten Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Nord- und Osteuropa, mit dem Ostseeraum, der NATO-Nordflanke, maritimer Strategie und Sicherheit. Er nimmt an dem Kiel International Seapower Symposium (KISS) 2024 teil.