Multi-Domain-Battlefield: Die Kriege der Zukunft
#GIDSdebate | 4. November 2021 | Autorin: Dr. Victoria Eicker | Fotos: Bundeswehr / Jana Baumann & Marco Dorow
Land, See und Luft sind die etablierten, uns selbstverständlich gewordenen Dimensionen der Kriegführung. Unter diesen stellt der Luftkrieg die jüngste „Domäne“ dar, und er ist gerade einmal etwas mehr als 100 Jahre alt. In unserer Zeit nun kommen neue Dimensionen beziehungsweise Domänen kriegerischer Auseinandersetzung dazu: der Weltraum und „Cyber“, der Krieg in und mit Computer- und Informationsnetzen. Diese beiden neuen Dimensionen verstärken die Wirkkraft der anderen drei, aber ihre Wirkung bedroht gegebenenfalls Gesellschaften und deren Institutionen bereits dann, wenn in den drei wohletablierten Dimensionen der Kriegführung Gefechtshandlungen noch gar nicht stattfinden. In zeitlicher und räumlicher Hinsicht verändert sich daher in unserer Zeit das Gefechtsfeld, und tatsächlich ist ein multidimensionales Gefechtsfeld bereits ein Teil unserer Wirklichkeit. Die zeitlich-räumlichen Grenzen dieses Gefechtsfeldes, das erscheint klar, verschwimmen zunehmend. Wie aber verändert sich dessen Konfiguration? Was bedeutet das? Wie werden Kriege in der Zukunft geführt?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Lehrgang Generalstabs- und Admiralstabsdienst National 2020 (LGAN) der Führungsakademie der Bundeswehr. Die Fragestellung, welche operativen Herausforderung die Bundeswehr in einem multidimensionalen Gefechtsfeld meistern muss, wurde dem Lehrgang vom Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, vorgegeben. Die künftigen Spitzenführungskräfte der Bundeswehr sollen out-of-the-box über das Multi-Domain-Battlefield, das multidimensionale Gefechtsfeld, in dem Heer, Luftwaffe und Marine ebenso gefordert sind, wie der Cyber- und Informationsraum oder das Weltall neue Möglichkeiten eröffnet, nachdenken und Vorschläge erarbeiten, wie die Führungsprozesse der Bundeswehr angepasst werden können.
Bei der jüngsten #GIDSdebate präsentierten Major Konrad D., Korvettenkapitän Alexander Heinrich, Major Michael Jappsen, Flottillenarzt Dr. Susanne Brechtel und Major Josef Kranawetvogl, ausgewählte Teilaspekte der Ergebnisse, die im kommenden Jahr zum Abschluss des LGAN 2020 der Generalität präsentiert werden. Die Digitalisierung des Gefechtsfelds stellt eine wichtige Weiche für Streitkräfte dar. Denn die Anwendung neuester Technologien verbessert die Reaktionsfähigkeit der eigenen Kräfte und deren Interoperabilität. Es geht um Schnelligkeit und Informationsüberlegenheit. Doch was ist ein Multi-Domain-Battlefield? Zunächst „Multi-Domain“: Zu den klassischen Dimensionen hinsichtlich der Wirkung kommen neben Luft, Land und See noch Cyber und Weltraum als zwei relativ moderne Dimensionen hinzu. Die Dimensionen Cyber und Weltraum gelten als sogenannte enabler; sie ermöglichen zum einen das Wirken der drei anderen Dimensionen und können durch neuartige Systeme oder Aufklärungsfähigkeiten deren Wirkung verstärken. Sie eröffnen aber auch neue Räume der Verwundbarkeit: beispielsweise Hackerangriffe auf die eigene Infrastruktur oder das Unterbinden der Aufklärungsfähigkeiten aus dem Weltall.
Eine mögliche sechste Dimension: Der Mensch
Die Dimensionen sind nicht trennscharf und müssen gesamtheitlich betrachtet werden. „Das multidimensionale Gefechtsfeld beschreibt alle Aspekte, in denren die Überlebensfähigkeit der modernen Gesellschaft sichergestellt werden muss“, so die Lehrgangsteilnehmenden. „Dieses Gefechtsfeld ist mehr als die Kombination und die Zusammenarbeit von Luft, Land und See.“ Bevor es zum Einsatz kinetischer Kräfte in der Luft, auf dem Land oder auf See kommt, kann das Gefüge „Mensch und Gesellschaft“ beispielsweise durch Desinformationskampagnen oder Cyberattacken bereits geschwächt werden. Außen und Innen verschwimmen. Eine Kriegserklärung liegt nicht vor und nach völkerrechtlichen Maßstäben besteht kein Angriffsfall. Durch die Dimensionen Cyber und Weltraum bewegt sich die Gefechtssituation von den binären Schlachtfeldern weg zu einem Operationsbereich, der sowohl auf der Zeitachse als auch auf der Wirkungsachse subtiler und diffiziler ist.
Als ein Novum brachte der Lehrgang eine sechste Dimension ins Spiel: die „Human Domain“, den Menschen. Den Menschen als Dimension zu deklarieren, sei noch nicht final entschieden, hieß es von den vortragenden Offizieren. Zu klären bleibe, ob die anderen fünf Dimensionen den Menschen und die moderne Gesellschaft ausreichend berücksichtigen. „Der Mensch wirkt sich auf alle anderen Dimensionen aus und dient insbesondere der strategischen Vorbereitung des mehrdimensionalen Gefechtsfeldes“, so die These. Der Mensch sei Ziel und handelnder Akteur in einem. Das war immer so, aber durch die zunehmende Digitalisierung und durch den Cyber- und Informationsraum sei der Mensch Nukleus in allen Dimensionen und verwundbar, zugleich aber durch Assistenzsysteme und Human Performance Optimization auch ein potenziell über das Normalmaß hinaus aufgerüsteter Kämpfer. An dieser Stelle wiesen die Lehrgangsteilnehmenden auf die ethischen und moralischen Fragen hin, die gerade westlichen Staaten beschäftigen. Wie sehr darf der Menschen durch Technik und Substanzen optimiert werden? „Mensch und Gesellschaft werden ein politisches Ziel im Krieg der Zukunft“, so eine weitere Annahme. Klar ist: Das „Gefechtsfeld“ Mensch kann bereits zu Friedenszeiten betreten werden, ohne dass ein Kriegszustand festgestellt wurde.
Die Dimensionskaskade
Die „Dimensionskaskade“ war ein weiterer Begriff, den die Offiziere in die Diskussion einführten. Die Kaskade markiert den Weg hin zu einem multidimensionalen Gefechtsfeld. Der Feind müsse am Horizont noch lange nicht sichtbar sein, obwohl er bereits im Inneren angreife – beispielsweise durch Desinformationskampagnen. Hier stelle sich die Frage nach der Definition von Krieg und Frieden sowie deren Abgrenzung. Ist eine Cyberattacke schon eine Kriegserklärung? „Die Duellsituationen auf dem Schlachtfeld wird nicht mehr den Stellenwert haben wie in der Vergangenheit“, so die Lehrgangsteilnehmenden. Bei der Dimensionskaskade steht am Anfang beispielsweise die Dimension Cyber, in der Destabilisierung bereits stattfinden kann, noch bevor in den anderen Dimensionen überhaupt etwas zu spüren ist. Während in der Dimension Mensch oder Cyber bereits Bedrohungen und Angriffe stattfinden, sind Luftwaffe, Marine und Heer womöglich noch nicht einmal mobilisiert.
Eine Grunderkenntnis war, dass der OODA-Loop beschleunigt werden müsse. Der OODA-Loop beinhalte die Fähigkeiten „observe“, „orient“, „decide“ and „act“. Auf einem modernen Gefechtsfeld müssten die Reaktionszeiten zwischen diesen Fähigkeiten verkürzt werden, um zu schnelleren Entscheidungen zu kommen. Es gelte, schneller als der Gegner zu sein. Mit zunehmender Digitalisierung und unter Hinzuziehung von Künstlicher Intelligenz vernetze und beschleunige sich das Gefechtsfeld zunehmend. Assistenzsysteme zur Analyse der Informationsflut seien bedeutsam, um die Informations- und Wirkungsüberlegenheit zu erlangen. „Unsere Führungsprozesse sind derzeit zu langsam“, so das Fazit. „Führen vor Ort muss zur Not aber auch ohne digitale Hilfe möglich sein. Wir müssen fähig sein, schnell Entscheidungen treffen zu können, wenn das Netz nicht verfügbar sein sollte. Das Prinzip Führen mit Auftrag behält also an Aktualität.“ Die Fähigkeit zur Führung von Multi-Domain-Operations-fähig beinhalte nicht, dass man alles können muss, es gehe um die richtigen Schnittstellen.
GIDSdebate bringt Wissenschaftler, Offiziere, Unternehmer und Behördenvertreter zusammen. Das Forum am dritten Mittwoch eines Monats umfasst jeweils ein Impulsreferat durch eine Expertin oder einen Experten, eine 30-minütige Diskussion und die Gelegenheit zum Netzwerken. Derzeit wird #GIDSdebate als hybrides Format veranstaltet, so auch am 17. November um 17 Uhr. Arvea Marieni, politische Beraterin in Strategiefragen im Bereich Klima und Sicherheit, spricht zu den Auswirkungen der „wettbewerbsfähigen Zusammenarbeit“ im neuen chinesischen „1+N“-Klimapolitikrahmen (Klimaplan) auf die Sicherheitspolitik. Weitere Informationen sind per E-Mail über veranstaltungen@gids-hamburg.de erhältlich.