Wargaming: Lehrmethode mit Tradition
Das Zimmer ist dunkel, die Luft stickig und am Computer sitzt gebannt ein „Gamer“ vor einem großen Bildschirm und versucht gerade, auf dem virtuellen Schlachtfeld seinen Gegner auszuschalten. – So oder so ähnlich ist die Assoziation vieler Menschen, wenn sie das Wort „Wargaming“ hören. Dabei ist „Wargame/Wargaming“ nicht gleich „Wargaming“. Es handelt sich vielmehr auch um eine kreative Lehrmethode mit einer fast 200 jährigen Tradition, um sich bei komplexen Entscheidungssituationen und Problemen einen möglichen Ergebnisraum in der Regel unter Berücksichtigung eines selbstständig oder autonom agierenden Gegenspielers oder Gegners zu erschließen. Dabei stützt sich die Methode auf die intrinsische Motivation der Teilnehmer basierend auf dem Thema und dem Spaß am Spielen.
Wargaming ist eine Methode
Die Ursprünge des Wargaming als eigenständige Methode liegen im preußischen Kriegsspiel des 19. Jahrhunderts. Auch wenn die aktuelle Forschung zeigt, dass das Kriegsspiel bereits vor den beiden Freiherren von Reißwitz, Vater (1816) und Sohn (1824), entstanden ist. So waren beide unmittelbar für die Einführung in die militärische Ausbildung und damit für die allgemeine Verbreitung verantwortlich. Neben Würfel und Würfeltabellen waren das Besondere an ihrem Kriegsspiel erstmalig eine maßstabsgetreue Landkarte als „Spielplan“ und äußerst dezidiert vorgegebene militärische Regelsätze. 1825 führte die preußische Armee das Kriegsspiel als Ausbildungshilfsmittel ein. Es diente zunächst dazu, Einsatzgrundsätze zu vermitteln und das „Entscheiden“ zu lernen, einzuüben und zu trainieren.
Aufgrund von Geschenken an ausländische Herrscher durch den preußischen Hof verbreitete sich das Spiel in den 1830er Jahren unter anderem bis nach Russland und in die Türkei. In Preußen selbst erlebte es mehrfache Wellen (1824-28, 1848.1855 und 1862 bis 1874), in denen Regelsätze überarbeitet und mehrfach neu publiziert wurden.
Training für das reale Gefechtsfeld
Eine Renaissance erlebte das Kriegsspiel dabei beginnend ab 1862 als Leutnant von Tschischwitz einen deutlich gestrafften Regelsatz mit einem Spielplan und -steinen veröffentlichte, dem zugeschrieben wird, dass durch das „Spielen“ dieses Kriegsspiels die jungen preußischen Offiziere in den Kriegen 1866-67 und 70-71 entscheidungswilliger und -freudiger als ihre gleichalterigen österreichischen und französischen Counterparts waren. Dabei lassen sich in den verschiedenen Regelwerken und ihren Neuauflagen (z.B. Tschischwitz 1862, 67, 70 und 74) auch Veränderungen des realen Gefechtsfelds nachweisen, wie beispielsweise die Einführung des metrischen Systems oder der Gefechtsfeldtelegraphie.
Eine Zäsur erlebte das Kriegsspiel 1876, als der spätere preußische Kriegsminister Julius von Verdy du Vernois ein Kriegsspiel ohne die bis dato obligatorischen Würfel und Würfeltabellen publizierte, die den von Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz (1780-1831) als Nebel des Krieges beschriebenen Zufall einbrachten. Es beschleunigte zwar die Durchführung des Kriegsspiels, setzte jedoch in der Folge die Spieler beziehungsweise die Auszubildenden der Willkür des Spielleiters und damit zumeist ihrem Vorgesetzten aus, was zu einer Degeneration eines vormals sehr machtvollen Ausbildungsmittels führte. Moltke der Jüngere und General Waldersee berichteten unter anderem über sinnlose Kriegsspiele, bei denen der Kaiser immer gewann und die Generalität stets verlor.
Beginnend mit den 1870er Jahren verbreitete sich das Kriegsspiel auch nach Österreich, Italien, England und in die USA, wo eigene Regelsätze entstanden. Dabei ist auffällig, dass in allen Spielen beide Parteien immer dieselben Waffen- und Einsatzgrundsätze verwendeten.
Nachspiel von Schlachten in der Ausbildung
Während es heute üblich ist, per „Kriegsspiel“ vergangene Schlachten nachzuspielen – im Mai 2019 wurde in England mit 200 Spielern die Schlacht bei Waterloo nachgespielt, vermied man dieses in Preußen aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin. Aber bereits dort wurde das Kriegsspiel und die damit verbundene Kartenarbeit dazu verwendet, um sich auf zukünftige Szenarien vorzubereiten. Und es wurden auch Einsatzgrundsätze für neue Waffene, wie zum Beispiel dem indirekten Feuer, Reichweitenveränderungen bei Handfeuerwaffen oder Semaphore für die Gefechtsfeldkommunikation experimentiert.
Von Landkarten bis Computerspielen mit KI
Heute werden unter dem Begriff Wargaming sowohl Computer-, Karten- als auch sogenannte Tabletop-Spiele in Form von Brettspielen beziehungsweise auf Landkarten basierten Spielen verstanden.
Die Methode „Wargaming“ beinhaltet darüber hinaus auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit einer ausgeplanten Problemlösung, in dem die Entscheidung simuliert einem rational oder auch irrational handelnden Opponenten vorgelegt wird, um Stärken und Schwächen einer Entscheidung besser erkennen zu können.
In Verbindung mit Wargaming werden häufig auch die Methoden „Red Teaming“ und „Alternative Analysis“ verwendet: bei der ersten versetzt man sich in seinen Gegner („Empathy“), während man bei der zweiten Methode das Problem durch ein fachfremdes Expertenteam analysieren lässt, um zu gänzlich anderen Lösungsansätzen (thinking out the box) zu kommen.
Die Grenzen der Begriffe sind dabei eher überlappend als trennscharf. Es gibt Wargames für alle Warfighting Domänen (Land, See, Luft, Weltall und Cyber ) und auch für Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) und Robotik werden bereits in den USA die ersten Wargames durchgeführt, wobei man KI auch zur Durchführung von Wargames verwenden kann.
In den deutschen Wissenschaften ist der Begriff „Kriegsspiel“ umstritten. Dabei lassen sich interessante Koalitionen beobachten, denn sowohl Friedensforscher als auch Militärs sehen darin, wenn auch aus entgegengesetzten Perspektiven, eine ungewollte Verniedlichung des Krieges.
Wargaming als Management-Methode
Im Sinne moderner Management-Methoden gehört Wargaming zu den Gamificationmethoden. Damit werden Methoden bezeichnet, die auf der dem Spielen zugrundeliegenden intrinsischen Motivation beruht. Dies wurde bereits von Friedrich Schiller als urmenschliche Tätigkeit (Homo ludens) bezeichnet: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Gamification-Methoden umfassen zum einen Spiele, bei denen Spiel- und Lehrinhalt identisch sind, wie im Kriegsspiel. Diese Formen werden auch als „Serious Play“ bezeichnet, um den Nimbus des reinen Spielens abzuschwächen. Darüber hinaus gibt es aber auch Spiele, bei denen Spiel- und Lerninhalt getrennt sind, wie zum Beispiel bei Classcraft. Hierbei wird der zu vermittelnde Lehrinhalt mit einer sogenannten „Spiele-Engine“ unter- beziehungsweise hinterlegt, durch die für Lernerfolge Belohnungen und für Misserfolge Bestrafungen ausgeführt und erfasst werden. Letzteres ist zwar didaktisch umstritten, dennoch lassen sich auch die Erfolge insbesondere bei spielaffinen Jugendlichen nicht bestreiten.
Autor: Sönke Marahrens
Der Autor befasst sich im Rahmen seiner persönlichen Forschung mit den Grundlagen des preußischen Kriegsspiels, und war als Unterabteilungsleiter im Planungsamt der Bundeswehr Vorsitzender der AG Modellbildung und Simulation der Bundeswehr der Bundeswehr. Im Rahmen der CD&E Konferenz 2015 führte er zusammen mit seinen Mitarbeitern ein 18-stündiges Gamification Event basierend auf der Software Classcraft für 100 interessierte Konferenzbesucher durch, bei denen den Teilnehmern die Grundlagen von CD&E (Konzeptentwicklung und deren experimentelle Überprüfung) vermittelt wurden.
Literatur zum Einstieg:
Karl M . Knapp, The Gamification of Learning and Instruction: Game based Methods and Strategies for Training and Education, John Wiley & Sons , San Francisco, 2012
Philipp von Hilgers, Kriegsspiele: Eine Geschichte der Ausnahmezustände und Unberechenbarkeiten, Wilhelm Fink, Paderborn, 2008
Zum Stand der Forschung:
Jorit Wintjes, Das preußische Kriegsspiel, #GIDSanalysis, 2019
Jorit Wintjes und Steffen Pielström, Preußisches Kriegsspiel“, in: Militaergeschichtliche Zeitschrift, Band 78, Heft 1, Seiten 86–98, ISSN (Online) 2196-6850, ISSN (Print) 2193-2336, Berlin/Boston 2019
Foto: Bundeswehr/Aranka Szabo