Strategie in Raum und Zeit: Neue Herausforderungen für den Ostseeraum
Zweite Strategietagung des GIDS am 22. Januar 2019
Autor: Dr. Viktoria Eicker
Fotos: Lene Bartel / Beitragsbild: Adobe Stock
#GIDSnews I 25. Januar 2019
Um das Konfliktpotenzial rund um die Ostsee ging es bei der zweiten GIDS-Konferenz „Strategie in Raum und Zeit: Neue Herausforderungen für Deutschland, NATO und EU im Ostseeraum“ am 22. Januar 2019. An der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg diskutierten Experten aus Politik, Bundeswehr und Wissenschaft am Dienstag über den sicherheitspolitischen Hotspot Ostseeraum und mögliche Bündnispflichten für Deutschland.
Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 hat die sicherheitspolitische Architektur in Osteuropa eine deutliche Erschütterung erfahren. Die hegemonialen Ansprüche Russlands in der Ostukraine stehen im Raum. Die Angst, dass sie sich bis an die Ostsee erstrecken könnten, treibt die baltischen Staaten um. „Die Krise hat sich von einem Randmeer – nämlich dem Schwarzen Meer – zu einem anderen Randmeer – die Ostsee – verlagert“, erklärte Oberst Professor Dr. Matthias Rogg, Vorstand des German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) in seiner Begrüßung. „Der Ostseeraum ist zu einem sicherheitspolitischen Hotspot geworden.“ Tatsächlich ist die Situation an der NATO-Ostgrenze heute wesentlich fragiler als noch in den 1990er Jahren.
In Deutschland hat dies zu einer Neubewertung der Landes- und Bündnisverteidigung beigetragen, die sich auch im Weißbuch zur deutschen Sicherheitspolitik 2016 manifestiert. Oberst Rogg führte den rund 350 Gästen die geostrategische Bedeutung des Ostseeraumes vor Augen, an dem eine ausgeprägte Urbanität, intensiver Handel und energiepolitische Faktoren für Wohlstand in der Region entscheidend sind. Er wies zudem auf die begriffliche Unschärfe von Strategie auch im Weißbuch hin. „Es gibt zwar keine klare Definition von Strategie“, sagte er, aber fast jede sicherheitspolitische Strategie zeichnet sich durch einen „Handlungs- und Gestaltungsanspruch“ für ein zielgerichtetes, synchronisiertes und vernetztes Handeln mit vielen Variablen aus, in denen Raum und Zeit bestimmende Faktoren sind.
Die Video-Statements der Referenten finden Sie auf unserem Youtube-Kanal.
Zwischen Logik und Grammatik
Dem Begriff der Strategie widmete sich in der Keynote Professor Dr. Stig Förster. „Keine Strategie? – Strategisches Denken in Deutschland in historischer Perspektive“ war das Thema des Historikers, der in seinen Betrachtungen bis ins 19. Jahrhundert zurückging. „Strategisches Denken war zu der damaligen Zeit auf Kriegsvorbereitung und Krieg beschränkt“, erklärte er. Carl von Clausewitz und Helmut von Moltke lieferten in der Vergangenheit Ansätze für eine Begriffsdefinition – waren aber damals von der Idee einer gesamtstaatlichen Strategie noch weit entfernt. Strategie stand – und stehe immer – im Spannungsfeld zwischen Politik und Militär. „Der Krieg hat keine Logik, wohl aber eine Grammatik“, sagte Förster. Das bedeutet: Der Zweck des Krieges wurde von der Politik bestimmt – die sogenannte politische Logik. Allerdings musste die Politik auf die Natur und den Verlauf des Krieges Rücksicht nehmen – deren Grammatik. „Eigentlich ein trübes Resümee für Deutschland“, stellte Professor Rogg am Ende fest. „Es gibt also in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts keine Phase einer gelungenen politischen Strategie.“
Die strategische Dimension des Meeres
Danach ging es an die Küsten des europäischen Nordmeeres rund ums Baltikum und Skandinavien. Vizeadmiral Rainer Brinkmann, Stellvertreter des Inspekteurs der Marine, entführte in einem erfrischenden Vortrag zur Deutschen Marine auf die Weltmeere: „Das Meer hat eine wichtige strategische Dimension“, so Brinkmann. Die geographische Lage Deutschlands in der Mitte Europas sei nicht nur bedeutsam für die Rolle Deutschlands innerhalb der Europäischen Union, sondern habe auch eine maritime Komponente. Deutschland und viele andere europäische Staaten seien Küstenländer, was für Wirtschaft und Handel eine fundamentale Rolle spiele.
„Deutsche Reeder haben immer noch die größte Handelsflotte weltweit“, erklärte Brinkmann. Damit hängt Deutschlands Wohlstand als Exportnation essentiell von den Weltmeeren ab. „Die Deutsche Marine schützt Handelswege“, sagte Brinkmann. „Die Ostsee ist Teil der Nordflanke und bildet eine strategische Einheit mit dem Nordmeer, daher ist die Präsenz des Bündnisses im Baltikum unverzichtbar.“ Die maritimen Herausforderungen aus sicherheitspolitischer Perspektive würden zunehmen; es könne auch sein, dass die Deutsche Marine eines Tages die Amerikaner im ostasiatischen Raum unterstützen werde. Aber zunächst gehe es darum, im Ostseeraum, also quasi vor unserer Haustür, Schutz und Handel von Seewegen sicherzustellen. Dafür müssten maritime Fähigkeiten gestärkt werden: „regional engagiert, global orientiert.“
Demokratische Werte und Desinformation
Auf dem darauf folgenden ersten Panel unter der Überschrift „Der Ostseeraum im 21. Jahrhundert – eine strategische Herausforderung“ diskutierten Fachleute aus Politik und Militär. Inga Skujina, außerordentliche und bevollmächtige Botschafterin der Republik Lettland, betonte nach einem kurzen Abriss der jüngsten lettischen Geschichte, dass Landesverteidigung keine Sache der Vergangenheit mehr sei. „Aus den jüngsten Entwicklungen in der Ukraine haben wir unsere Schlussfolgerungen gezogen“, sagte Skujina. „Es geht darum, für unsere demokratischen Werte einzustehen.“
Der ehemalige Kommandeur des 1. Deutsch-Niederländischen Korps, Generalleutnant a.D. Ton van Loon erklärte in einem Impulsvortrag zu „Desinformation als militärstrategische Herausforderung“, dass es weltweit eine Rückkehr zur Machtpolitik gebe – und das nicht nur in Russland. Die Werkzeuge seien mannigfaltig – beispielsweise hybride Kriegsführung, beziehungsweise hybride Methoden. „Desinformation hat eine neue Dimension erreicht, wenn man mit Social Media Wahlen gewinnen kann.“ Das Ziel sei es dabei, Einfluss zu nehmen auf das, was Menschen glauben, dass es geschieht. Die Tatsachen rücken dabei weiter in den Hintergrund. „Es gibt Nähte zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Wenn man auf diese einwirkt, können sie zerreißen“, sagt der Niederländer. Und nun? „Resilienz stärken“ – war sein Credo. Mit dieser Meinung war er auf der Tagung nicht allein.
Vertrauen schaffen und Strategie stärken
Doch zunächst referierte Oberst i.G. Dr. Norbert Eitelhuber von der Stiftung Wissenschaft und Politik über mögliche Entwicklungsszenarien für das NATO-Russland-Verhältnis. Er plädierte dafür, eine strategische Analyse zu vorzunehmen – „Beobachtung allein reicht nicht“. Seit der NATO-Russland-Akte von 1997 befinde man sich in einer gegenseitigen Spirale des Vertrauensverlusts. „Ein Russland, das sich seiner selbst unsicher ist, ist ein Quell der Unruhe“, sagte Eitelhuber. Darum sei jeder Schritt, der hilft, Vertrauen wieder aufzubauen, wichtig und richtig. „Nur Vertrauen schafft Sicherheit.“
In der anschließenden offenen Diskussion sagte Skujina: „Wir sind in Lettland in einem hybriden Krieg. Das ist eine Konstante in unserem Alltag.“ Am Ende war man sich einig, dass man in diesem Spannungsfeld nur strategisch vorgehen kann. „Für uns ist es strategisch wichtig, dass die Amerikaner in Europa bleiben“, betonte van Loon dann auch und mit einem Lächeln zu Brinkmann fügte er an: „Ich sage es nicht gern, aber wir brauchen auch eine starke Marine“. Bezogen auf das Baltikum gab Eitelhuber noch einmal zu bedenken: „Wir müssen Russland klarmachen, dass die Kosten für einen Einmarsch ins Baltikum zu hoch wären. “
„Deutschland braucht eine mutige und strategische Vision“
Auf dem zweiten Panel unter dem Thema „Vom Frontsaat zur Anlehnungsmacht – Deutschlands Bedeutung für den Ostseeraum“ diskutierten die Panelisten insbesondere über die Rolle Deutschlands in einem unsicheren Weltgefüge. Professor Dr. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, wählte deutliche Worte in seinem Referat „Juniorpartner, Großmacht, Ungeliebte Mittelmacht – Stellt die Vertiefung der europäischen Integration für Deutschland noch eine Handlungsalternative dar?“ Nach Masala sei die Lage klar: Auf der einen Seite stehe Russland, in der Mitte Europas beobachten wir die Rückkehr des Nationalismus und mit Blick nach Westen stelle sich die Frage, ob die USA weiter eine europäische Macht sein wollten. „Deutschland ist zu klein, um global eine Rolle zu spielen“, so Professor Masala. Dennoch werde von Deutschland Führung in Europa erwartet – mit Samthandschuhen. „Deutsche Hegemonie zeigt sich im Positiven im Ostseeraum“, betonte er.
Professor Dr. James Bindenagel, U.S. Ambassador a.D. und Leiter des Center for International Security and Governance an der Universität Bonn, gab den Gästen im voll besetzten Manfred-Wörner-Zentrum einen Einblick in die transatlantische Partnerschaft aus unabhängiger US-amerikanischer Perspektive. „Trump hat Visionen und einen starken Willen, aber keine Strategie“, so Bindenagel unmissverständlich. Je mehr sich die USA als internationaler Akteur in sicherheitspolitischen Fragen zurückziehe, desto wichtiger werde die Rolle Deutschlands. „Aber Deutschland – und auch Europa – brauchen eine strategische Planung“, gab er zu bedenken, „und eine mutige und strategische Vision.“
Die Widerstandskraft der Gesellschaft
Generalleutnant Hans-Werner Wiermann, deutscher militärischer Vertreter im NATO-Militärausschuss und EU-Militärausschuss, schloss als letzter Panelist mit Gedanken zu „NATO und EU – und ihre Rolle für die europäische Sicherheit“. „Es wird keine Sicherheit in Europa geben ohne eine europäische Union“, sagte Wiermann und fügte an: „Es wird auch keine Sicherheit für Europa geben ohne die NATO.“ Das Dilemma sei klar: „Die EU kann bestimmte Sachen besser als der Nationalstaat. und andere kann man besser im Nationalstaat angehen und nicht auf der Ebene der europäischen Union. Das muss Brüssel entscheiden“, sagte Wiermann – und es müsse klug entscheiden. Zugleich forderte Masala: „Wir müssen die sicherheitspolitischen Debatten offen führen, und nicht, weil man eine bestimmte Reaktion in der Gesellschaft antizipiert und Probleme nicht ansprechen – oder schlimmer noch – wichtige Entscheidungen nicht treffen will.“ Es sei wichtig, sich ehrlich zu machen, betonte Brinkmann. Das führte am Ende auch noch einmal zum Thema der Resilienz. Die Widerstandskraft der Gesellschaft zu stärken, sie auf sicherheitspolitische Umbrüche mit möglichen Folgen vorzubereiten – das sei schließlich auch Strategie.