Sicherheitssektorreform: Mehr als Ertüchtigung
Dr. Deniz Kocak plädiert für einen breiten Ansatz bei der Stabilisierung fragiler Staaten
#GIDSdebate | 30. August 2021| Autor: Dr. Deniz Kocak | Fotos: Bundeswehr / Jenny Bartsch & Dr. Deniz Kocak
Wie lässt sich der Kollaps von staatlichen Sicherheitskräften und der Zusammenbruch von staatlichen Institutionen, wie er sich dieser Tage in Afghanistan vollzieht, vermeiden? Wie kann verhindert werden, dass sich Terroristen Rückzugsräume in Krisenregionen schaffen? Auf diese Fragen antwortete Dr. Deniz Kocak unter anderem in seinem Vortrag „Sicherheitssektorreform als Ansatz zur Stabilisierung von fragilen Staaten und Krisenregionen“ bei der jüngsten #GIDSdebate.
Der an der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg und dem German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) arbeitende Politikwissenschaftler sieht auch die gegenwärtigen Bemühungen zur Stabilisierung Malis als nicht erfolgversprechend an. Der derzeitige Fokus liege auf einer reinen Ertüchtigung der Sicherheitskräfte des westafrikanischen Landes. Anstelle beispielsweise die inhärente Korruption und die militärinternen Rivalitäten mittels nachhaltiger struktureller Reformen des malischen Sicherheitssektors im Rahmen einer Sicherheitssektorreform (SSR) zu bekämpfen, fokussiert man auf eine technische Unterstützung. Es fehle jedoch ein ganzheitlicher Reformansatz, um langfristig Wirkung erzielen zu können. „Maßnahmen einer Sicherheitssektorreform gehen über eine rein technische Assistenz hinaus und sind in erster Linie eine politische Aufgabe“, argumentierte Kocak.
Für eine nachhaltige Transformation des jeweiligen Sicherheitssektors sei daher die Implementierung von Reformen notwendig, die über das traditionelle Verständnis des Sicherheitssektors hinausgehen. Neben dem Training und der Ausrüstung von Militär und Polizei stelle die Etablierung einer Aufsichtsfunktion durch legitime zivile politische Vertreter über die Institutionen des Sicherheitssektors einen wichtigen Schritt im Reformprozess dar.
Aus Sicht des Referenten, der auch für die Vereinten Nationen beratend tätig ist, sind neben den tragenden staatlichen Institutionen zivilgesellschaftliche Organisationen, Religionsgemeinschaften, Wissenschaft und Medien ebenso in den Reformprozess einzubinden wie auch nichtstaatliche bewaffnete Akteure in Form von lokalen Milizen oder Bürgerwehren.
Timor-Leste als positives Beispiel
Ein gewisses Maß an Stabilität habe beispielsweise eine breit angelegte Sicherheitssektorreform in Timor-Leste erreicht. Als Reaktion auf die schweren Unruhen im Jahr 2006 und den Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols in Timor-Leste, wählten die Vereinten Nationen einen umfassenderen Ansatz, nachdem zuvor ein erster Reformversuch, der sich hauptsächlich auf die Ertüchtigung der Sicherheitskräfte fokussiert hatte, gescheitert war.
Relevante sozio-politische Faktoren wie unter anderem anhaltende politische Rivalitäten zwischen lokalen Parteien, die Politisierung der Sicherheitskräfte oder auch die hohe Arbeitslosigkeit und insbesondere die Stärkung der politischen Institutionen seien in der ersten Stabilisierungsphase zwischen 2000 und 2006 nicht ausreichend berücksichtigt worden, erläuterte der Politikwissenschaftler, welcher selbst in Timor-Leste forschend und beratend tätig war.
Das Beispiel Timor-Leste habe gezeigt, dass zur Umsetzung einer ganzheitlichen und nachhaltigen Sicherheitssektorreform ein umfassendes Verständnis für regionalspezifische Landeskontexte und die Einbeziehung von wissenschaftlichen Experten unabdingbar sei, um notwendige SSR-Maßnahmenpakete an die jeweiligen lokalen Umstände anzupassen.
Diese Erkenntnisse müssten nun auch in aktuellen und zukünftigen Einsätzen der Bundeswehr Berücksichtigung finden. Kocaks Resümee: „Eine von der Bundesrepublik verfolgte ressortübergreifende SSR-Strategie erschafft aus instabilen Staaten langfristig staatliche Bollwerke gegen autoritäre Staaten, welche versuchen, in vorhandene Machtvakuen vorzustoßen, und schafft ebenso staatliche Bollwerke gegen nicht-staatliche Gewaltakteure, welche die Instabilität und Zerrissenheit von Staaten ausnutzen und sowohl eine regionale als auch überregionale Bedrohung darstellen.“