Impulse für ein Europa der Verteidigung

Junge Führungskräfte stellen praxisnahe Empfehlungen vor 

#GIDSnews | 6. Juli 2021| Autorin: Dr. Victoria Eickner | Fotos: Bundeswehr / Katharina Roggmann & Christian Gelhausen

Zwei Jahre haben die Offiziere des Lehrgangs für Generalstabs- und Admiralstabsdienst National (LGAN) 2019 auf diesen einen Tag im Sommer 2021 hingearbeitet – es ist der Abschluss einer intensiven Studienzeit und der Stresstest für die entstandenen Ergebnisse. Diese sind am 1. Juli bei der Ergebnispräsentation an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg dem Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, übergeben worden. Er hatte den jungen Führungskräften das Thema ins Lastenheft geschrieben: „Die strategische Ausrichtung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU: Deutsche Schwerpunkte und Prioritäten“. Nun erhielt er dazu innovative Ideen und Empfehlungen.

„Sie haben an einem Thema gearbeitet, das strategische Relevanz für das Ministerium hat und ich nehme ihre Ergebnisse als Impulse mit“, sagte General Zorn den 107 Lehrgangsteilnehmenden in Hamburg. „Die zweijährige Studienphase als zentraler Teil des LGAN aber auch der Denkfabrik Führungsakademie findet heute zum dritten Mal ihren Abschluss“, sagte der Kommandeur der Führungsakademie, Generalmajor Oliver Kohl, in seiner Begrüßung. „Die Lehrgangsteilnehmenden kommen aus der Analyse eines durch den Generalinspekteur gesetzten, hochkomplexen Themas, selbstorganisiert und mit einem leeren Blatt Papier beginnend zu nachvollziehbaren Vorschlägen“. Im Fokus für den Kommandeur: Der Mut zum Diskurs. „Diskurs lebt vom offenen, kontroversen und direkten Austausch“, betonte er und appellierte daran, die Ergebnisse ernst zu nehmen.

Von der Arktis bis Afrika

Welchen Beitrag leistet die GSVP zur europäischen Sicherheitsarchitektur? Wie kann man sie weiterentwickeln und welche Rolle kann Deutschland dabei einnehmen? Das waren die Ausgangsfragen. Der Lehrgang fertigte zunächst eine Bedrohungsanalyse an, näherte sich dann über eine Analyse der Binnen und Außenbeziehungen der EU und integrierte dabei die Teilaspekte Strategie, Operationsfähigkeit, Instrumente und Kommunikation. Am Ende stand das Ziel: Empfehlungen für eine Stärkung der GSVP zu einem handlungsfähigen Instrument der europäischen Außenpolitik. Während der Studienphase begleitete der Lehrgang die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020.

Die Europäische Union ist vor rund 60 Jahren vor den Eindrücken zweier Weltkriege hervorgegangen. Damit ist es das erfolgreichste Friedensprojekt unserer Geschichte. Nichtsdestotrotz nehmen die Bedrohungen zu: an der südlichen Peripherie mit fragiler Staatlichkeit und Migration, an der nordöstlichen Grenze mit der Rückkehr klassischer territorialer Ansprüche, mit Cyberangriffen, internationalem Terrorismus und dem Erstarken populistischer Tendenzen. Konsens war: Europa muss wieder mehr Eigenverantwortung übernehmen, muss letztlich auch eine stärkere Rolle bei der Etablierung einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur spielen. Mit Blick auf die Union formulierte der Lehrgang zunächst eine Bestandsaufnahme: Arktis als neue geostrategische Herausforderung im Norden, die Ostflanke und Afrika als weitere geostrategische Knotenpunkte, um nur einige Beispiele zu nennen. Daraus zogen sie die Erkenntnis, dass die EU regionale und Partikularinteressen sowie divergierende Bedrohungswahrnehmungen auszeichnet. Und die müsse man berücksichtige. Eine der Empfehlungen beispielsweise: In Bezug auf die NATO-Ostflanke stellten die Lehrgangsteilnehmenden eine fehlende strategische Klarheit im Umgang mit Russland fest und empfahlen einen gemeinsamen europäischen Kanon.

Europa der Verteidigung

Aus dem Resümee der sicherheitspolitischen Lage der EU formulierten die Lehrgangsteilnehmenden das Ziel: ein handlungsfähiges Europa der Verteidigung. Das sei aber ohne glaubhafte militärische Optionen nicht möglich. Dabei sei die GSVP immer ergänzend zur NATO zu denken, Europa müsse sich im Krisenmanagement entwickeln, während die NATO fortwährend das Instrument zur Bündnisverteidigung bilde. Das internationale Krisenmanagement der EU habe jedoch Optimierungsbedarf, um Konflikte im Einflussbereich Europas auch ohne die NATO bewältigen zu können. Der Vorschlag: eine permanente strukturierte Reaktions- und Handlungsfähigkeit, genannt PESATA (Permanent Structured Ability to Act). Grundlage dafür könne eine Operationalisierung des Artikels 42 EU-Vertrag sowie eine Regionalisierung gemäß der Bedrohungswahrnehmung der Mitgliedstaaten und die Präsenz an neuralgisch wichtigen geopolitischen Knotenpunkten. PESATA könnte neben PESCO (Permanent Structured Corporation), der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit, dem Europäischen Verteidigungsfonds EVP und CARD (Coordinated Annual Review on Defence), der Koordinierten Verteidigungsplanung für Europa, eine weitere wichtige Säule für ein Europa der Verteidigung werden. Auch empfahl der Lehrgang, für die Domänen Welt- und Cyberraum gemeinsame Fähigkeiten zu entwickeln.

Bemängelt hat der Lehrgang die mangelnde Reaktionsfähigkeit der GSVP. Hier empfahlen die Offiziere die Führungsstruktur – insbesondere auf operativer und strategischer Ebene – zu verbessern, um schneller handlungsfähig zu sein. Grundbaustein dafür könne ein militärisches Hauptquartier auf EU-Ebene sein, das mit dem zivilen Pendant den vernetzten Ansatz verstärke. Dazu brauche es auch operative Schlüsselfähigkeiten, wie ein differenziertes Lagebild erstellen zu können. Deshalb sei eine gemeinsam betriebene Aufklärungsfähigkeit notwendig. Eine europäische Führungsakademie bilde entsprechend das Führungspersonal im europäischen Krisenmanagement aus, gerade in Bezug auf Interoperabilität. Als wichtigste Instrumente für eine Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit kristallisierte der Lehrgang sowohl die European Battlegroup (EUBG) heraus wie auch die Initiative für Verbindlichkeit und Messbarkeit von PESCO-Projekten. Der Lehrgang entwickelte beispielsweise ein Verfahren, PESCO-Projekte auf ihre Effektivität zu prüfen. Der Vorschlag: Die Initiative als wesentliches Instrument zur Weiterentwicklung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Fähigkeiten zu stärken.

„Mehr Geschwindigkeit, weniger Bürokratie“

Letzter Aspekt der Untersuchungen des Lehrgangs war die Kommunikation. Die relative Unbekanntheit der GSVP stehe ihrem Erfolg im Wege, so die These. Der Lehrgang entwickelte eine Kampagne hin zum besseren Verständnis der Thematik. So entstanden ein Flyer, eine Webseite und eine Werbekampagne auf Basis emotionaler Bilder und Botschaften frei nach dem Motto „make GSVP sexy“. Ein Punkt, der den Generalinspekteur beeindruckte. Die Vorschläge seines künftigen Spitzenpersonals bewertete der Generalinspekteur positiv. „Von Arktis über Afrika bis Ausbildung haben Sie alles in den Blick genommen. Es sind sehr viele spannende Impulse darunter. Insbesondere die Idee von PESATA mit einer gesteigerten Handlungsfähigkeit finde ich ansprechend.“ Er konstatierte aber auch, dass es bis zur Umsetzung lange dauere. „Ich würde mir da mehr Geschwindigkeit und weniger Bürokratie wünschen.“

Dass ein Europa der Verteidigung wichtig sei, unterstrich auch der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Botschafter Ekkehard Brose: „Wir sind auf einem Pfad der Marginalisierung der europäischen Sicherheitspolitik. Wir brauchen aber eine EU als sicherheitspolitischen Akteur, um komplexen Bedrohungslagen begegnen zu können.“ Das funktioniere aber nicht, ohne dass sich Deutschland massiv engagiert. Während der Diskussion kam auch das Bild einer europäischen Armee auf. „Aber das ist noch in ganz weiter Ferne“, versicherte General Zorn. Er betonte, dass zunächst bilaterale Abkommen im Vordergrund stünden, um die europäische Verteidigungsfähigkeit zu steigern und auch miteinander zu verflechten. Es seien diese integrativen Aspekte, die jetzt zielführend sind.

Junge Führungskräfte als Zuhörer

An der Veranstaltung nahmen auch 20 junge Nachwuchs-Führungskräfte aus der Bundeswehr teil. Es war bereits das zweite Mal, dass die jungen Soldatinnen und Soldaten einen Einblick erhielten, was in der Ausbildung zum Stabs- beziehungsweise General- und Admiralstabsoffizier auf sie zukommt. Am Ende der Veranstaltung überreichte der Lehrgang dem Generalinspekteur der Bundeswehr die Ergebnisse der Studienphase. „Die entstandenen Produkte werde ich ins Ministerium zur Prüfung geben. Einzelaspekte werden wir sicher umsetzen. Ihre Impulse sind praxisnah und werden den Diskussionsprozess antreiben“, bedankte sich der Generalinspekteur beim LGAN 2019. „Ich bin überzeugt, dass Ihnen das eine oder andere Thema noch einmal begegnen wird.“

Das German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS), die Denkfabrik der Bundeswehr, begleitet die Studienphase, etwa bei der Erstellung der wissenschaftlichen Fachpublikationen. In diesem Jahr sind fünf Fachpublikationen des Lehrgangs im GIDS erschienen. „Auch das GIDS erhält in diesen zwei Jahren von den Lehrgängen viele Impulse für vertiefende Studien“, sagt Oberst i.G. Professor Dr. Matthias Rogg, Vorstandsmitglied des Thinktanks. „Das GIDS begleitet die zweijährige Studienphasen mit Impulsen sowie Expertinnen und Experten. Die Produkte, die die Lehrgangsteilnehmenden erarbeiten, fließen in die Denkfabrik, das heißt, der Lehrgang wird in diesem Moment selbst zu einem Teil der „Denkfabrik“: Die Lehrgangsteilnehmenden denken kreativ, frei und bringen zudem bereits eine Menge persönliche Erfahrung mit. Das ist für das GIDS eine echte Bereicherung.“


Making-of-Video
Studienphase des Lehrgangs General- und Admiralstabsdienst 2019
Statement
Korvettenkapitän Katharina Günther
Teilnehmerin Lehrgang General- und Admiralstabsdienst 2019

Statement
Generalmajor Jean-Pierre Metz
Verteidigungsattaché bei der Botschaft der Französischen Republik in Deutschland

Statement
Botschafter Ekkehard Brose
Präsident Bundesakademie für Sicherheitspolitik


Statement
Oberst i.G. André Abed
Direktor Strategie & Fakultäten Führungsakademie der Bundeswehr

Statement
Professor Dr. Stefan Bayer
Leiter Forschung GIDS